Sich im Unendlichen kreuzende Parallelen

Kategorie: Texte
Veröffentlicht am Samstag, 02. März 2013 23:41
Geschrieben von Matthias Ströckel
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Text von Kathrin Barutzki aus dem Katalog: "Sich im Unendlichen kreuzende Parallelen"
anlässlich der Ausstellung: Florian Neufeldt & Matthias Ströckel - Sich im Unendlichen kreuzende Parallelen; erschienen im Verlag der Buchhandlung Walther König; © 2013 Kunsthalle Düsseldorf / Kathrin Barutzki

 

Sich im Unendlichen kreuzende Parallelen

Um der Natur der Dinge auf den Grund zu gehen, den Gestirnen nachzuspüren und dabei Antworten auf scheinbar unerklärliche Fragen zu finden, sind bereits in der Antike Karten erstellt und Schattenspiele gedeutet worden. Der Drang danach, eine Ordnung in das undurchsichtige Chaos des Lebens zu bringen und sich bisher unerschlossene Räume zu erschließen, hat unter anderem dazu geführt, das komplexe System „Welt“ sowohl zeitlich als auch räumlich zu vermessen, um es auf diese Weise erklären zu können. Darüber hinaus ist spätestens seit Platons Höhlengleichnis1 die Wirklichkeit als Illusion, abhängig von der jeweiligen Perspektive des Betrachters, erkannt worden. Demnach erzeugt erst der subjektive Blick – die Projektion selbst – die Bilder, die unser jeweiliges Weltbild ergeben. Wie jede Vermessung subjektiv und konstruiert ist, mag auch das Weltbild, je nach eigenem Erfahrungshorizont, nach kulturellem Umfeld und sozialer Herkunft, nach Wissensstand und Bildungsgrad, variieren – individuell ist es immer. Nun sind in unserer globalisierten Welt, die von einer stetig wachsenden Infrastruktur und sich unaufhaltsam erweiternden Neuen Medien geprägt ist, einerseits eine immer schnellere Vernetzung und Kommunika- tion – ein direkter Austausch – von einer Seite der Erde zur anderen möglich, andererseits scheinen Isolation, Reizüberflutung bis hin zu Realitätsverlust des Individuums in der anony- men, schnelllebigen Masse des Informations- und Medienzeitalters vorprogrammiert. Diese Ambivalenz, die das immer enger und detaillierter werdende Netz von Informationen über die Welt, in der wir leben, mit sich bringt, wird ein Grund dafür sein, warum sich heute immer mehr Künstler mit Hilfe unterschiedlicher Vermessungsstrategien ihr eigenes Bild von Welt, eine Ordnung von Raum und Zeit, schaffen.2

Hier knüpft die Doppelausstellung Sich im Unendlichen kreuzende Parallelen mit Werken von Florian Neufeldt (*1976, Bonn) und Matthias Ströckel (*1986, Regensburg) an: Die ausgewählten Arbeiten stehen für die beschriebene menschliche Neugier und das Verlangen, die vorgegebenen Verhältnisse zu hinterfragen, zu vermessen und zu ordnen, um daraufhin Gegebenes in neuen Zusammenhängen anders sehen und bestenfalls verstehen zu können. Dabei wird die Wahrnehmung selbst zur Disposition gestellt und die Konstruktion von Wirklichkeit zum zentralen Thema des jeweiligen Werks. Das im Titel der Ausstellung aufgegriffene Postulat geht auf den antiken griechischen Mathematiker Euklid zurück, der es in den Elementen3 – eine Systematisierung und Abhandlung mathematischer, astronomi- scher und musischer Phänomene, die bis heute für unser Verständnis von Mathematik, Kosmos und Musik von großer Bedeutung ist – aufstellte. Es dient hier als schwer fassbares und dennoch faszinierendes Bild, das „nur“ im Kopf funktioniert und auf das phantastische Potential mathematischer wie physikalischer Paradoxe hinweist.4 Einerseits erzeugt es Unverständnis, andererseits regt es zum Nach- und Weiterdenken an, indem es uns auf unsere Grenzen (der Vermessung) verweist und gleichzeitig einen (Denk-)Raum öffnet, der jenseits des Wirklichen liegt und neue Ordnungen zulässt.

Ein zunächst nicht zuzuordnendes Geräusch im Ausstellungsraum irritiert in Florian Neufeldts Arbeit (2013), die speziell für den Seitenlichtsaal der Kunsthalle Düsseldorf entstanden ist, und sorgt für erhöhte Aufmerksamkeit des Besuchers. Woher kommt und was erzeugt das Bohrgeräusch? Eine Wand, die einen Bohrer verdeckt, wird in unregelmäßigen Abständen von diesem durchlöchert. Die Spitze des Bohrers allerdings taucht immer nur so kurz auf, dass sie sich dem Blick des Betrachters meist entzieht. Was bleibt, sind das Geräusch und das Loch – ein Loch neben dem nächsten, willkürlich in die Wand gebohrt. Was wird hier vermessen und geordnet? Der Ausstellungsraum? Die stets weiterlaufende Zeit, die der Bohrer in einzelne Intervalle teilt, indem er kontinuierlich weiterbohrt und bohrt und bohrt... – ohne Rücksicht auf ein „ansehnliches“ Bild bzw. vorgegebenes Ergebnis? Es ist die Leerstelle, das Nicht-Wissen von dem „Dahinter“, die den Reiz des Werks ausmacht und die Neugier weckt. So entsteht ein Vorstellungssraum hinter der sich stetig wandelnden, löchrigen Bildfläche, der durch den Bohrer mit Lärm gefüllt wird und – je nach Assoziation – etwas Bedrohliches, Mysteriöses, Wesenhaftes verkörpert. Gleichzeitig erzeugt der Rhythmus der technischen Wiederholung eine Wiedererkennung und Vertrautheit in Bezug auf das mysteriöse „Störgeräusch“.

In seinen raumgreifenden Installationen setzt Neufeldt Geräusche und Licht präzise ein, sodass die Stille und Reinheit des White Cube aufbricht. Dabei arbeitet er mit eingezogenen Wänden, Leitplanken, abgenutzten Treppenabsätzen, altem Küchenmobiliar, Holzbalken, verbogenen Neonröhren und Metallelementen. Die Einzelteile bringen ihre eigene Geschichte mit sich und werden neu so zusammengefügt, dass sie die ursprüngliche Raum- situation vollkommen verändern: Böden werden vermessen, aufgeschnitten, mit Rollläden bespannt, dass man meint, das Fenster hätte sich im Boden verirrt. So kehrt Neufeldt gewöhn- liche Anordnungen um und führt herkömmliche Sichtweisen ad absurdum, wenn er mit dem Wissen von der Herkunft und alltäglichen Funktion der Dinge spielt und damit gleichzeitig auf ironische, leichte Weise bricht.

Auch Neufeldts Soundskulpturen fordern die gewöhnliche Wahrnehmung des Betrachters heraus, wenn alltägliche Dinge wie Sitzhocker oder Steine von der Decke hängen und zu sprechen beginnen. Teils monoton, nuschelnd oder leiernd, verzerrt, den Atem austestend bis ausreizend, zeigt sich hier die im Material verborgene Stimme. Mal sind es unterschiedliche Übersetzungen eines einzigen, vermeintlich bedeutungsstarken Wortes (Stärke, Ausdauer, Erfolg...) ins Englische (Stärke: force, strength, fortitude...; Ausdauer: ...), die wie willkürlich aneinandergereiht und in einem Atemzug hintereinander gesprochen werden, dass ihre eigentliche Bedeutung jeden Sinn verliert (Sprechender Stein, 2012). Die zunächst klare und deutliche Aussprache wird mit immer weniger Atem immer undeutlicher und verliert an Stärke und Intonation. Der Betrachter muss näherkommen und genau hinhören, um zu verstehen, dass hier die bedeutungsschwangeren Begriffe zu Worthülsen verkommen sind – Nothing succeeds like success, and nothing survives like survival (2010). In der scheinbar unsinnigen Aneinanderreihung und Wiederholung, das heißt Neu-Ordnung der Wörter hinterfragt Neufeldt ironisch Festschreibungen und den inflationären Gebrauch bestimmter Wörter. Dabei werden Geräusche so mit der Skulptur zusammengebracht, dass ein irritierendes Moment entsteht, indem das Material zum Dialogpartner des Betrachters wird.

Matthias Ströckels konzeptuell ausgerichtete Objekte, Fotografien, Drucke und Zeichnungen kreisen um räumliche und zeitliche Vermessungsstrategien von Welt, indem sie diese auf unter- schiedliche Weise verbildlichen und dabei gleichzeitig deren Sinn und Zweck in Frage stellen. Sie gewinnen ihren Reiz durch eine minimale künstlerische Setzung, bei der Ströckel die Rolle eines Künstler-Wissenschaftlers einzunehmen scheint. Dabei bedient er sich philosophischer wie kunstwissenschaftlicher Theorien und hinterfragt die Grenzen von wissenschaftlicher Genauigkeit und individueller Wahrnehmung, ohne das ästhetische Potential – die Aura – des einzelnen Objekts zu vergessen oder didaktisch zu werden. Er dokumentiert physikalische Prozesse (ohne Titel, 2012) oder führt sie als unmittelbares Erlebnis im Ausstellungsraum vor (Referenzrahmen, 2011). So thematisiert Ströckel die menschliche Wahrnehmung und das Beobachten sowie Festschreiben von Raum und Zeit, wobei kartographische Systeme (Weltenkarte, 2011), die Rhythmisierung von Zeit (Spezifische Toleranz, 2012) und unvorhersehbare Materialveränderungen innerhalb eines festgesetzten, zeitlichen Prozesses im Fokus stehen.

In seiner Arbeit Spezifische Toleranz (2012) hat Ströckel die Zeiger zweier Metronome mit einem dünnen, schwarzen Faden so miteinander verbunden, dass die beiden im gleichen Takt zu schlagen scheinen. Erst beim Näherkommen und genauen Hinhören bemerkt der aufmerksame Betrachter eine leichte Versetzung des Takts. Auch wenn diese nur eine Millisekunde kurz sein mag, sie ist da – und war es eben noch nicht. Hier ändert sich die Wahrnehmung des Takts durch die sich verändernde Betrachterposition: Blickt dieser aus einem gewissen Abstand auf die beiden miteinander verbundenen Metronome, nimmt er ein gleichmäßiges Ausschlagen der Zeiger wahr; erst wenn er näher an das Objekt herantritt, bemerkt er die minimale Verzögerung. Dann wird die schmale Grenze deutlich, die zwischen scheinbarem Gleichtakt (Konstruktion) und Verschiebung (Wirklichkeit) liegt. Schließlich handelt es sich trotz des verbindenden Fadens um zwei eigenständige Mechanismen, die unabhängig voneinander Zeit messen und einteilen, sodass jeweils ein eigener Rhythmus und eine eigene Ordnung entstehen. Dabei steht der nahezu regelmäßige Taktschlag der Metronome im Zusammenspiel und gleichzeitig im Gegensatz zu dem wie willkürlich aufkommenden Geräusch des Bohrers aus Neufeldts Arbeit, der sich durch die Wand im Nebenraum bohrt. Mit Referenzrahmen (2011)vermisst Ströckel die Ausstellungsdauer, indem er erkaltetes, in einen schmalen metallenen Rahmen gelassenes Wachs mit Hilfe eines heißen Drahts, der das Wachs durchzieht, zum Schmelzen bringt. So verändert sich das helle, horizontal auf Augenhöhe positionierte Wachsbild ständig, bis es zum Ende der Ausstellung eine eigene, unvorhersehbare Form entwickelt hat. Das flüssige Wachs wird zum Medium, das die Zeit unmittelbar transportiert und verbildlicht. Am Ende der Ausstellung bleiben die Spuren dieses Prozesses in Form des gerahmten Wachsobjekts sowie ausgekühlter Wachstropfen auf dem Ausstellungsboden sichtbar.

Drei großformatige Fotografien (ohne Titel, 2012) dokumentieren, wie eine brennende Kerze einen Spiegel zum Zerspringen bringt. Die Kerze ist halbiert vor einem, auf einem Holzrahmen angebrachten, senkrecht aufgestellten Spiegel positioniert, sodass die Flamme unmittelbar in Kontakt mit dem Spiegel steht (1. Foto) und einen Rußstreifen auf diesen zeichnet (2. Foto). Die letzte Abbildung zeigt die erloschene Kerze und den dahinter teilweise vom Rahmen abgefallenen zerborstenen Spiegel. Hier greift Ströckel auf die für die Kunst(geschichte) zentralen Motive, Kerze und Spiegel, für das Darstellen von Endlichkeit, Raum und Zeit zurück: Der Spiegel gilt unter anderem als Fenster zur Seele und dient als Medium der Selbsterkenntnis; auch wenn er – wie Schattenfiguren, die nur die Schemen dessen wiedergeben, was im Lichtfall steht – ausschließlich die äußere Form des Gespiegelten zeigt, weist er mit der Flüchtigkeit seines Spiegelbildes auf die Vergänglichkeit der Dinge hin.5

Die erloschene Kerze steht als Vanitassymbol für das endende Leben und ist als Lichtquelle gleichzeitig Sinnbild für Materie und Geist, sprich für das Nicht-Fassbare.6 Ströckels Versuchsanordnung lässt die Motive abseits des erwähnten ikonologischen Kontexts wirken, indem er sie als Teil eines wissenschaftlich anmutenden Experiments präsentiert. Doch dreht es sich hier wirklich um reine Wissenschaft? Was verbirgt sich wohl hinter dem Vorhang, der im Spiegel sichtbar wird und Assoziationen mit Theater und barocken Bildkonstruktionen aufwirft?

Mit seiner Weltenkarte (2011), auf der die feinen Umrisse unterschiedlicher Kartentypen wie auf einem Architekturplan gedruckt sind, macht Ströckel auf die Schwierigkeit und Lücken in der Darstellbarkeit von Welt in der zweidimensionalen Ebene aufmerksam. Darüber hinaus thematisiert er den subjektiven Blick auf die Welt, den jede spezifische Weltkarte abbildet. Die feinen Knicke im Papier erinnern an die alltäglichste aller Karten, den Stadtplan und dessen Gebrauch, der (zumindest vor Google Maps und anderen Navigations-Apps) besonders an den eingeknickten Stellen mit der wiederholten Verwendung der Karte stets weiße Stellen bzw. Lücken aufweist. Die „Welt“ wird bei Ströckel zu „Welten“, womit deutlich wird, dass sich derselbe Raum auf unterschiedliche Weise lesen und abbilden lässt. Die Konstruktion per se wird hinterfragt, indem Ströckel sich auf die Umrisslinien der dargestellten Weltkarten beschränkt. Der Inhalt – die Welt – wird ausgelassen, um der jeweiligen Form Raum zu geben und gleichzeitig die unterschiedlichen Kontexte und Funktionen der Karten (besonders durch das Weglassen) hervorzuheben.

So werden die Lücken in den Werken von Florian Neufeldt und Matthias Ströckel, wie die Unschärfe der Übersetzungen der Soundskulpturen, die Unsichtbarkeit des Bohrvorgangs, die ungleiche Taktung der Metronomzeiger oder die unvorhersehbare Materialveränderung des Referenzrahmens, zur willkommenen Leerstelle. Auf diese kann der Betrachter – ähnlich wie bei Euklids schwer fassbarem Bild der sich im Unendlichen kreuzenden Parallelen – seine eigene Projektionsfläche werfen, sodass ein Assoziationsraum entsteht, der die Welt ausschnitthaft, in all ihrer Dichte und Unordnung geordnet, vermessen und vielleicht sogar klar und deutlich erscheinen lässt.



(1)  Platon: Politeia. Sämtliche Werke, Bd. 5, Griechisch – Deutsch, Frankfurt a. M. 1991, S. 509-515. 

(2)  Die Gruppenausstellung Vermessung der Welt, die 2011 im Kunsthaus Graz stattfand, sowie der 2012 von Christian Reder herausgegebene Essayband Kartographisches Denken, der wissenschaftliche und künstlerische Beiträge zu dem Thema sammelt, bestätigen das aktuelle künstlerische Interesse an kartographischen Ordnungssystemen von Welt. Vgl. Pakesch, Peter; Bucher Trantow, Katrin (Hg.): Vermessung der Welt. Heterotopien und Wissensräume in der Kunst, Ausst. Kat., Kunsthaus Graz, Köln 2011. Und: Reder, Christian (Hg.): Kartographisches Denken, Wien/New York 2012.

(3)  Euklid: Die Elemente. Bücher I–XIII; hrsg. u. übers. v. Clemens Thaer, Leipzig 1933; in: Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften 235; hier: 1. Teil (Buch I-III), Buch I, S.1-3. 

(4)  Das von Euklid nicht bewiesene Parallelenaxiom sorgte für Jahrtausende für Aufregung innerhalb seiner Disziplin, bis Albert Einstein seine Theorie darauf aufbaute, Raum und Zeit als miteinander verschränkte Phänomene definierte und erkannte, dass zwei Geraden nie ganz parallel zueinander laufen können, wenn davon ausgegangen wird, dass die Raumzeit gekrümmt ist. Vgl. FOCUS-Schule, Nr. 6, 2011: http://www.focus.de/ schule/lernen/frage-von-frau-kurtz-warum-schneiden- sich-parallelen-in-der-unendlichkeit_aid_684420.html, Stand: 17.12.2012.

(5)  Vgl. Kretschmer, Hildegard: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, Stuttgart 2008, S. 396. 

(6)  Vgl. ebd., S. 214.